Mai 2017
Die Frage stelle ich mir in diesen Tagen wieder häufiger.
Von mir als Autorin erwarten die Leser selbstverständlich, dass ich darüber bereits vor dem Schreiben nachgedacht habe. Inzwischen weiß ich, dass etliche Leser beim historischen Roman das Nachwort sogar zuerst lesen, damit sie gleich wissen, wie ernst dem Autor die ganze Geschichte ist – sozusagen.
Darum habe ich für „Die Fallstricke des Teufels“ auch ein Nachwort verfasst – schon im letzten Sommer. Da steht dann:
Ich wollte … eine spannende Geschichte erzählen, mich dabei aber möglichst eng an belegbare historische Fakten halten.
Aber was mache ich jetzt mit dem verflixten Stadtplan?!
Als ich im Sommer bei dtv in München war, fand ich die Idee, meinen Lesern auf der inneren Umschlagseite einen „Stadtplan“ für Pirna im 16.Jahrhundert zu zeigen, ganz wundervoll.
Mancher möchte vielleicht beim Lesen ab und an zurückblättern, um sich zu orientieren. Und mancher mag sogar Spaß daran haben, beim nächsten Besuch in Pirna selbst zu schauen, welche Orte in der Stadt zu Schauplätzen meiner Geschichte wurden.
Der Verlag versprach, einen solchen Plan zeichnen zu lassen, ich sollte dafür entsprechendes Material nach München schicken.
Das war dann viel leichter gesagt als getan, denn einen Stadtplan von Pirna im 16. Jahrhundert gibt es nicht. Das wusste ich, denn ich hatte es schon vor dem Schreiben meiner ersten Kapitel recherchiert.
Damals hatte mir ein langes Gespräch mit Dr. Sturm, Architekt und Bauforscher in Pirna, weitergeholfen. Durch seine Erklärungen, die er für mich unbeleckten Laien mit ein paar schnellen Skizzen ganz nebenbei verständlicher machte, gewann ich einen Eindruck. Ich konnte mir anschließend besser vorstellen wie Pirna in der Renaissance ausgesehen hatte, bevor es im 17./18.Jahrhundert all die barocken Hauben auf seine Türme bekam – und bevor die Stadtmauer mit sämtlichen Toren dem Eisenbahnbau und der Stadterweiterung im 19.Jahrhundert weichen musste.
Doch ob ich darüber schreibe (wo ich weglassen oder umschreiben kann, was ich nicht genau weiß) oder einen konkreten Plan entwerfen soll, macht einen gewaltigen Unterschied! Das wurde mir im letzten Sommer, als ich über alten Stadtansichten und Plänen grübelte, schnell klar.
Die älteste Stadtansicht Pirnas stammt aus dem Jahr 1628. Die ältesten Stadtpläne, die heute vorliegen, wurden zu Beginn des 18.Jahrhunderts gezeichnet. Die habe ich benutzt. Da es in Pirna keinen großen Stadtbrand gab, ist die Altstadt in ihrem gitterartigen Grundriss mehr oder weniger unverändert geblieben. Schloss und Vorstädte haben sich zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert weitaus stärker verändert. Ich begriff, dass mein „Stadtplan“ also nur eine ganz grobe Annäherung an das Renaissance – Pirna ermöglichen könnte.
Aber wie sahen Stadtpläne im 16. Jahrhundert überhaupt aus?
Ich suchte nach Stadtplänen sächsischer Städte aus dieser Zeit und fand eine Menge dreidimensionaler Ansichten.
Diese hier von Freiberg ist typisch: http://skd-online-collection.skd.museum/de/contents/show?id=1435899
Auf den ersten Blick wirkte das merkwürdig. Auf den zweiten Blick sprach es mich aber wiederum an – es war fast, als würde ich durch ein kleines Guckloch in die Vergangenheit linsen…
Und da wusste ich: Den „Stadtplan“ Pirnas für meine Leser möchte ich genauso gestaltet haben – einschließlich des schönen Pirnaer Wappens oben in einer Ecke!
(Klar, dass auch das Stadtwappen 1542 noch anders aussah: Es hatte damals nur einen Löwen, den zweiten gab es erst als „Belohnung“ ein paar Jahre später.)
Inzwischen hatte es Alexandra Bowien bei dtv übernommen, aus meinen Materialien, groben Skizzen und hochtrabenden Wünschen einen ersten Entwurf zu gestalten.
Im April lag das Ergebnis vor und ich war begeistert, auch wenn mir klar war, dass wir noch weiter daran arbeiten mussten.
Dr. Sturm, den ich bat, mich auf die gröbsten Fehler aufmerksam zu machen, teilte meine Begeisterung nicht. Ihm war das alles viel zu spekulativ. Um einen baugeschichtlich fundierten Stadtplan Pirnas für das 16. Jahrhundert anzufertigen, bedürfe es schließlich des Forschungsumfangs einer Doktorarbeit. Die Dreidimensionalität unseres Entwurfs machte das ganze Unterfangen noch zweifelhafter für den gründlichen Bauforscher.
Er versuchte dennoch zu helfen und schlug vor, dass wir statt des dreidimensionalen Plans doch besser einen der Stadtpläne aus dem 18. Jahrhundert und Dilichs Stadtansicht von 1628 auf die Umschlagseite setzen sollten. Den Rest könnte man der Fantasie des Lesers überlassen.
Tagelang denke ich über seine Argumente nach. Sie waren stichhaltig und wohlüberlegt, keine Frage.
Warum sagt mir mein Bauchgefühl noch immer: Bleib bei deiner Idee mit dem dreidimensionalen Plan!?
Ich höre mir ein paar andere Meinungen an – pro und contra – wie das so ist.
Schließlich telefoniere ich mit Alexandra Bowien, denn allmählich drängt die Zeit. Sie nimmt sie sich trotzdem. Wir überlegen, welche offensichtlichen Fehler korrigiert werden müssen, und auf welche Weise wir uns historischer Genauigkeit ein Stück weiter annähern können. Auch sie hat sich zusätzlich informiert, hat im Internet nach alten Stadtansichten gesucht, sie mit unserem Entwurf verglichen. Ihr sind die dreidimensionalen Stadtansichten aus dem 15./16. Jahrhundert ebenso ins Auge gesprungen wie mir – und sie haben ihr ebenso gefallen.
Nach dem Telefonat muss ich wieder an meinen ersten Eindruck von der Freiberger Stadtansicht denken – das Gefühl, durch ein winziges Guckloch in die Vergangenheit zu blicken. Die Perspektive ist ein bisschen verzerrt, und natürlich ist es nur ein kleiner Ausschnitt. Das heißt, ich kann anderes nicht sehen. Dabei entgeht mir unweigerlich einiges – vielleicht sogar Wichtiges.
Ich informiere mich weiter, versuche zu verstehen, was ich gesehen habe: Im Mittelalter hatten Stadtpläne eine narrative oder repräsentative Funktion, lese ich bei Wikipedia.
„Illustriert wurden darin die lokalen Gegebenheiten und wesentlichen Merkmale – wie Häfen, prachtvolle Bauten, Stadtmauern etc. – als Hintergrund für historische Beschreibungen oder Hervorhebung wirtschaftlicher Vorzüge der Stadt. Auf Exaktheit wurde dabei hingegen weniger Wert gelegt.“ (Quelle: Wikipedia)
Narrativ? Das gehörte bisher nicht zu meinem Wortschatz… Eine mögliche Worterklärung laut Wikipedia: „eine Erzählung geschichtlicher Ereignisse oder eigener Erlebnisse“
Plötzlich fühle ich es nicht nur, ich kann es auch erklären, warum ich genau diese Art von „Stadtplan“ für mein Buch will – trotz des Risikos der Ungenauigkeit:
Er ist ein weiteres Mittel, meine ganz besondere Sicht auf einen winzigen Ausschnitt von Geschichte mitzuteilen. Und das ist nicht die Sicht des Bauforschers und auch nicht die des Historikers (dass ich selbst im Rahmen meiner Ausbildung Geschichte studiert habe, ist dabei Segen und Fluch zugleich).
Meine Sicht ist die der Geschichtenerzählerin – nicht mehr, aber auch nicht weniger!
Kein Leser wird von einem historischen Roman (oder einer Karte dazu) die wissenschaftlich fundierte Faktendichte einer Doktorarbeit erwarten. Stattdessen wird er eine spannende, in sich schlüssige Geschichte verlangen, die in einem historischen Gewand daherkommt. Manchen wird ein dünnes Gewebe vollkommen genügen, andere schätzen solides Material und ordentliche Verarbeitung, vielleicht prüfen sie sogar einzelne Stiche auf ihre Reißfestigkeit. Das hängt dann von den ganz individuellen Bedürfnissen eines jeden ab.
Und nun bin ich mal gespannt, ob sich jemand traut, seinen Kommentar dazu abzugeben. Ich würde mich jedenfalls darüber freuen!
Wir sind über Deine Recherchen beeindruckt, uns freuen uns auf Dein Buch, das uns in eine vergange Zeit versetzt mit einer spannenden Geschichte und hervoragendem Hintergrund. Also bis Oktober heißt es abwarten und Teetrinken, naja Teetrinken geht natürlich auch während des Lesens.
Danke für den netten Kommentar! Eigentlich müsst Ihr nur noch bis zum 8.September warten, es sei denn, Ihr möchtet auf meiner Lesung in Pirna ein signiertes Exemplar haben. 🙂 Das würde mich natürlich sehr freuen!
Hallo Heike, ich erwarte von einem Buch, dass die Lebensumstände und die historischen Gegebenheiten stimmen und möchte beim Lesen auch möglichst viele aha-Erlebnisse, also neue Einsichten haben. Ob ein Stadtplan exakt stimmt oder nicht, ist für mich zweitrangig. Mir würde es reichen, wenn die Gegend, in der sich die Handlung abspielt, grafisch dargestellt wird, damit man sich die Abläufe besser vorstellen kann.
Bei einer Recherche habe ich ein Bild vom Marktplatz von Pirna gefunden, dass ich dir separat zusende.
Ansonsten ist deine Webseite (bis auf die matte Schrift) sehr gelungen.
Wie Du deine Recherseerbebnisse durch die Protagonisten im Roman an die Leser vermittelst ringt mir Hochachtung ab,einschliesslich vieler historisch geprägter Fachbegriffe. Sehr fundiert und lebendig. Man darf und möchte in Folge gespannt bleiben.
MfG
Vofrie
Liebe Heike, Dein erstes Buch ist Dir sehr gut gelungen. Herzlichen Glückwunsch! Die Geschichte, die Du Dir um die tatsächlichen historischen Ereignisse herum ausgedacht hast, ist spannend und in einer lebendigen, flüssig zu lesenden Sprache verfasst. Die Charaktere sind gut ausgebildet. Zugleich wird viel historisches Wissen vermittelt. Man merkt, dass die Historikerin ihr Handwerk versteht! Das Zeitkolorit ist geschickt in die Handlung eingebaut und wirkt keineswegs als Fremdkörper. Ich freue mich bereits jetzt auf den nächsten Band und bin schon sehr gespannt, wie Du die Geschichte „weiterspinnst“.
Liebe Grüße aus Leipzig,
Thomas